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Chinesische Hanfpalme (Trachycarpus fortunei) und Kirschlorbeer (Prunus laurocerasus) im Unterholz des Schutzwaldes oberhalb von Sementina bei Bellinzona (Aufnahme vom April 2022).Fotos und Grafiken: Andrina Rosselli

Verband & Politik | ZeitschriftenLesezeit 4 min.

Umgang mit invasiven Neophyten zur Erhaltung der Waldfunktionen

Ein neues Praxismerkblatt aus dem Kanton Tessin gibt konkrete Empfehlungen für die waldbaulichen Herausforderungen von morgen. Um die langfristigen Waldfunktionen zu erhalten, müssen invasive gebietsfremde Pflanzen bekämpft werden.

Andrina Rosselli, Adrian Oncelli, Joana Meyer* | Im steilen Steinschlagschutzwald oberhalb von Sementina bei Bellinzona leiden die Kastanienbäume unter den Spätfolgen verschiedener Krankheiten und Schädlinge sowie der anhaltenden Sommertrockenheit, einige Eichen sind gefährlich geneigt, und ein unterdrückter Kirschbaum könnte dringend ein wenig mehr Licht gebrauchen. Eine negative Auslese der absterbenden Kastanienbäume und der hängenden Eichen sowie eine gezielte Befreiung von klimafitten Zukunftsbäumen mit einem klassischen waldbaulichen Eingriff hätten jedoch verheerende Folgen für die Zukunft dieses Waldbestandes. Im
Unterholz wachsen nämlich bereits meterhohe Chinesische Hanfpalmen (Trachycarpus fortunei) und Kirschlorbeersträucher (Prunus laurocerasus), wie das oben stehende Bild zeigt. Am Waldrand blühen mehrere Götterbäume (Ailanthus altissima) und Sommerflieder (Buddleja davidii), und auf exponierten Felskuppen gedeihen Falsche Mimosen (Acacia dealbata). Bei
einem waldbaulichen Eingriff mit mehr oder weniger grosszügigen Öffnungen würden sich die bereits vorhandenen invasiven gebietsfremden Arten (sogenannte invasive Neophyten) stark ausbreiten, wobei die schattentoleranten Arten sich auch in einem geschlossenen Bestand etablieren. Viele dieser Neophyten sind aber aufgrund ihrer biologischen Eigenschaften wie der hohen Konkurrenzkraft oder des reduzierten Wurzelsystems nicht erwünscht für den Schutzwald. Jahrzehntelang geltende Waldbaurezepte müssen hinterfragt werden, denn es sind neue Herangehensweisen für diese Herausforderungen gefragt.

Infolge des Pilotprojektes «Umgang mit Neophyten zur langfristigen Erhaltung der Waldfunktionen im Tessiner Wald» [1] des Tessiner Kantonsforstamtes und der Abteilung Wald des Bundesamtes für Umwelt (BAFU) wurde Ende 2023 in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) das Praxismerkblatt zum «Umgang mit invasiven Neophyten zur langfristigen Erhaltung der Waldfunktionen» [2] veröffentlicht. Darin werden strategische, organisatorische und operative Empfehlungen beschrieben, wie mit Situationen wie in Sementina umgegangen werden soll.

Vier Schritte zum Ziel

Zum strategischen Umgang mit invasiven Neophyten im Wald wird ein Vorgehen in vier Schritten empfohlen, wobei als Ausgangspunkt die Identifizierung der vorkommenden invasiven Neophyten-
Arten dient. Mit einem speziellen Augenmerk auf die Schutzfunktion werden in den Tessiner Wäldern sechs invasive Neophyten prioritär bekämpft (weitere Arten je nach Situation). Für jede Art wurden dann Umgangskarten (Grafik 2) entwickelt, wobei territorial abgegrenzte Gebiete definiert wurden, in denen zwischen den vier Umgangsformen Tilgung, Eindämmung, Schadensbegrenzung oder differenzierter Waldbau unterschieden wird (Grafik 1; für mehr Informationen zu den Umgangsformen siehe «Vollzugshilfe Waldschutz» [3]).

Tilgung zielt auf eine komplette Entfernung des Neophyten-Vorkommens. Unter Eindämmung versteht man die Verhinderung der Samenbildung (Entfernung der Samenbäume) und eine Reduzierung des Vorkommens in der Fläche, zum Beispiel durch die Förderung einheimischer auf Kosten invasiver Arten. Bei der Schadensbegrenzung wird nur eine Verhinderung der Samenbildung angestrebt. Beim differenzierten Waldbau zielen die konkreten Massnahmen darauf ab, dass die Waldfunktionen möglichst nicht beeinträchtigt werden. Dazu können für eine ausreichende vertikale oder horizontale Struktur auch temporär Neophyten-Individuen integriert werden, Reinbestände sind jedoch klar zu vermeiden. Basierend auf Art. 27a Abs. 2 Bst. c des Waldgesetzes (WaG) werden invasive Neophyten auch ausserhalb des Waldgebietes bekämpft. Die Bekämpfung erfolgt in einem definierten Pufferstreifen von in der Regel maximal 200 m.

Koordination und langfristige Kontrollen

Auf organisatorischer Ebene empfiehlt das Merkblatt, Massnahmen in die Wege zu leiten, welche alle involvierten Akteure in der Praxis zusammenbringen. Der Kanton Tessin, durch die Zusammenarbeit der verschiedenen öffentlichen Ämter, koordiniert und unterstützt gemeindeweite Neophyten-Projekte, welche neben dem Waldgebiet auch Naturschutzzonen, Landwirtschaftsflächen und urbanes Gebiet umfassen. Wichtig sind realistische Zielsetzungen, eine koordinierte Vorgehensweise und langfristige Kontrollen. Der Pufferstreifen wird bei Naturschutzgebieten bis 500 m
ausgeweitet. Die kantonale Neophyten-Arbeitsgruppe [4] bietet regelmässige Praxiskurse für Gemeindemitarbeiter, Forstunternehmen oder Gärtner an, sensibilisiert die breite Bevölkerung an Informationsabenden in den Gemeinden oder organisiert Workshops für Umweltschutz- und Forstingenieurbüros zum regelmässigen Erfahrungsaustausch.

Waldbau mit Neophyten

Die operativen Empfehlungen stellen den Schwerpunkt des Merkblattes dar. Generell wird empfohlen, mindestens ein bis zwei Jahre vor jedem waldbaulichen Eingriff zu prüfen, ob präventive Massnahmen wie die Entfernung der Samenbäume (auch ausserhalb des Waldareals) zur Verringerung des Samendrucks erforderlich sind. Ausserdem wird ein besonderes Augenmerk auf die regelmässigen Nachkontrollen über mindestens fünf Jahre gelegt. Da einheimische Gehölze stärker vom Wild verbissen werden als Neophyten, sind auch Massnahmen zu deren Schutz einzuplanen.

Spezifische Empfehlungen werden für verschiedene Situationen zusammengefasst, welche vom Stabilitätseingriff über einen Wildbachpflegeeingriff bis zu einer natürlichen Störung oder einer temporären Rodung reichen. So wird für einen Wildbachpflegeeingriff, immer unter Einhaltung der NaiS-Anforderungsprofile im Schutzwald [5], für einige Anpassungen plädiert, um das Invasionsrisiko zu vermindern. Zum Beispiel werden eine Erhöhung der Eingriffshäufigkeit und eine Verkleinerung des entnommenen Holzvolumens empfohlen, sodass allzu grosse Öffnungen als ideale Neophyten-Verbreitungskorridore verhindert werden.

Situationsspezifische Methoden

Zu guter Letzt werden konkrete situationsspezifische Bekämpfungsmethoden präsentiert, welche bei präziser und sorgfältiger Anwendung ein wirksames Management der am meisten verbreiteten invasiven Neophyten im Tessiner Wald gewährleisten. So wird beispielsweise zur Bekämpfung des Götterbaums die klassische Ringelung (Entfernung der Rinde über den ganzen Stammdurchmesser) beworben, welche die Samenproduktion unterbindet und den Baum innerhalb von drei Jahren langsam absterben lässt, ohne dass sich gross Wurzelbrut bildet (Bild oben). Die Stockausschläge müssen zweimal jährlich entfernt werden.

Ausblick für die Alpennordseite

Südlich der Alpen sind die neuen waldbaulichen Herausforderungen schon heute Realität, aber bereits morgen könnten sie es auch auf der Alpennordseite sein. Die Dynamik der Neophyten-Ausbreitung kann sehr schnell vorhergehen. Die im Merkblatt vorgeschlagenen waldbaulichen Massnahmen werden bereits in Projekten im Tessin umgesetzt und wissenschaftlich begleitet. Nördlich der Alpen ist die Tilgung an vielen Orten noch ein realistisches Ziel, weshalb ein umgehendes Handeln dringend ist. Die Erarbeitung angepasster Strategien sowie die korrekte und kontinuierliche Ausführung geeigneter Massnahmen sollen eine vorbeugende Wirkung erzielen, um waldbauliche Überraschungen im Rest der Schweiz zu minimieren. 

 

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